Einführung in Kanji

Einführung
in
Kanji

Gestaltung

Wie in der Einführungsveranstaltung schon erwähnt, besteht jedes Kanji (漢字) aus einer bestimmten Anzahl von
Einzelstrichen (von 1 bis 64!), die an sich (mit Ausnahme des waagerechten Strichs ー, der mit der Bedeutung "eins" verwendet wird) keine Bedeutung haben. Wie auch bei Kana ist die Reihenfolge, in der die Einzelstriche geschrieben werden, nicht beliebig, sondern bei jedem Kanji festgelegt und muss theoretisch bei allen Schriftzeichen, d.h. ca. bei zwei- bis dreitausend Zeichen neu erlernt werden. (In der Praxis sieht es eher so aus, dass Sie, nachdem Sie die ersten 100 Kanji schreiben gelernt haben, fast alles automatisch läuft.)

Streng genommen sind es keine "Striche" im Sinne einer zeichnerisch geraden Linie, woraus ein Kanji besteht. Kanjis wie z.B. 三, 田, 十, 日, 目, 口, 品, 古, die eher an ein mit dem Lineal entworfenes geometrisches Gebilde erinnern, sind eher rar. Viel häufiger bestehen Kanji neben solchen Strichen noch aus Punkten und vor allem geschwungenen, z.T. angewinkelten oder mit "Häkchen" versehenen, Linien: 人, 母, 女, 風, 心, 水, 火,糸 etc.. Selbst die hier maschinell erstellten Schriftzeichen der sozusagen "geometrischen" Art, wirken in der Vergrößerung (48 points) keineswegs mehr wie eine technische Zeichnung:

三田十日目口品古

Wesentlich "künstlerischer" fallen natürlich die zuletzt genannten Kanji aus, die beinahe schon wie mit einem
Schreibpinsel, dem ursprünglichen Utensil beim Schreiben des Kanji, geschrieben aussehen :

人母女風心水火糸

Auf den ersten Blick können wir keine Gemeinsamkeiten zwischen den Zeichen der oberen und unteren Reihe, die jeweils aus 8 Kanji bestehen, erkennen. Die einzige, aber für das Schreiben außerordentlich wichtige Gemeinsamkeit liegt in der Tatsache, dass diese und fast alle übrigen Kanji grundsätzlich von (links) oben nach (rechts) unten und in recht gerader Haltung geschrieben werden.

So wird beispielsweise ein selbst für den Anfänger leicht zu erlernendes Kanji wie 口, das "Mund" bedeutet, in der zunächst noch gewöhnungsbedürftigen Reihenfolge ↓ , also linker Strich von oben nach unten, oberer Strich von links nach rechts, rechter Strich von oben nach unten und unterer Strich wieder von links nach rechts geschrieben. Das Zeichen "Mund" wird also nicht etwa wie ein Quadrat nach dem Schema ↑oder ↓↓, gezeichnet. (Im Übrigen wird in der Praxis der obere und rechte Strich von 口 in einem Zug, also ↓ geschrieben. Näheres siehe das Kanji 口 in der Kanjiliste von Lektion 7 in Ihrem Übungsheft.)

Wie Sie vielleicht jetzt schon festgestellt haben, unterscheiden sich Kanji in der Komplexität ihrer Gestalt. Dieses Phänomen kann z.B. anhand von japanischen, d.h. in Kanji geschriebenen Zahlen systematischer demonstriert werden:
Angefangen mit einem Strich für "eins" 一, zwei Einzelteilen für "zwei" 二, "sieben" 七, "acht" 八 oder "zehn" 十 , drei Einzelteilen für "drei" 三, vier Einzelteilen für "sechs" 六 (die Zahl "vier" besteht übrigens aus 5 Einzelteilen!) bis hin zu sehr komplexen Kanji wie z.B. "100 Millionen" 億, das aus 15 Einzelelementen besteht, kann das Kanji recht einfach, aber auch sehr komplex ausfallen.

Dabei sollten Sie sich jetzt schon einprägen, beim Schreiben eines jeden Kanji möglichst die Proportion zueinander einzuhalten. Mit anderen Worten muss das Größenverhältnis zwischen einem simplen Zeichen wie 口 ("Mund") und einem relativ komplexen Zeichen wie 億 ("100 Millionen") einigermaßen einheitlich sein. Des Weiteren sollte auch das Schriftbild eine gerade Haltung wahren. Hier ein Beispiel in der üblichen Mischschrift aus Kanji und Kana:
richtig: ドイツ人も漢字をきれいに書ける。 (Übersetzung: "Auch Deutsche können Kanji schön schreiben!")
falsch: も漢字をきれいにける。

Kategorisierung des Kanji

Ursprünglich ist das Kanji aus der Wiedergabe realer Gegenstände entstanden, wurde aber im Laufe der Jahrhunderte weitestgehend abstrahiert, da sonst nicht die komplexe Sprache hätte verschriftlicht werden können. Aufgrund dieser Weiterentwicklung existieren verschiedene Typen von Kanji, die sich u.a. in vier verschiedene historische Kategorien klassifizieren lassen. Auch wenn diese Kategorisierung, die von einer aus dem ersten vor christlichen (sic. ! ) Jahrhundert stammende ursprüngliche 6-er Teilung basiert, für das praktische Erlernen des heutigen Kanji keine besonders große Hilfe darstellt, kann sie einen kleinen Einblick in die bedingte Systematik dieser Schrift geben. Hier die vereinfachte Version in 4 Kategorien:

1. Piktogramme 象形 (shōkei) "Bilderschrift"
Diese Kanji entsprechen praktisch der Ursprungsform, d.h. sie entwickelten sich aus Abbildungen von Gegenständen
bzw. Erscheinungen des Alltags. Die bildlichen Vorlagen dürften heute noch zu erkennen sein.
Einige Beispiele:

Mund     kuchi (stilisierter Mund)
Baum     ki (aus Stamm und Wurzeln)
Auge     me (um 90° verdrehtest stilisiertes Auge)
Berg     yama (aus 3 stilisierten Bergspitzen)
Fluss     kawa (stilisierte Strömung)
Reisfeld     ta (Vogelperspektive von vier Parzellen)
Feuer     hi (Holzscheit mit aufsteigendem Rauch bzw. Flamme)

2. Indikatoren 師事 (shiji) "Symbolzeichen"
Die Gruppe dieser Kanji gibt abstrakte Begriffe wie bei unserem Verkehrszeichen mittels Zeichensymbole wieder.
Einige Beispiele:

eins     ichi
zwei     ni
drei     san
oben     ue
unten     shita
mitte     naka
hälfte     han

3. Ideogramme 会意 (kaii) "Zusammensetzung von Zeichen"
Diese Kanji sind dadurch gekennzeichnet, dass durch Kombination von zwei Zeichen neue Bedeutungen gebildet
werden.
Einige Beispiele:

Sonne + Mond = hell, Helligkeit   日+月   =明 aka(rui)
Baum + Baum = Wäldchen   木+木   =林 hayashi
Baum + Baum + Baum = Wald   木+木+木   =森 mori
Feuer + Feuer = Flamme   火+火   =炎 honō
Mensch + sagen = glauben   人+言   =信 shin(jiru)

4. Phonogramme 形声 (keisei) "Modulsystem"
Zu dieser Kategorie gehören die meisten (ca. 80%!) der existierenden Kanji. Ihr Charakteristikum ist, dass sie sich aus einem Bedeutungsteil (Sachgruppen-Info) und einem Ausspracheteil (Laut-Info) zusammensetzen. Während ein Ideogramm (vgl. Nr. 3) eine Kombination aus zwei gleichwertigen Zeichen seine Bedeutung ableitete, wird beim Phonogramm eine Art strikte Arbeitsteilung unternommen.

Radikal

Durch den Bedeutungsteil oder das sog. Radikal wird dem jeweiligen Kanji ein etwaiger Begriffsinhalt (Bedeutung) gegeben, während der zweite Teil wie gesagt die Aussprache (den Laut) bestimmt. Das Radikal lässt sich am besten noch mit dem Familiennamen vergleichen.

Es besitzt nämlich die Eigenschaft, als Oberbegriff einer Gruppe von mehreren ähnlichen, konkreten (oder abstrakten) Dingen, zu dienen. So wie sich z.B. die Familie Müller aus den Individuen Klaus, Anne, Martin, Iris etc. zusammensetzt, besteht der Grundstoff Metall (金) in Sinne eines Oberbegriffs u.a. aus den Mitgliedern Kupfer (銅), Eisen (鉄), Silber (銀), Blei (鉛) etc.. Wenn wir das erste Kanji (=Mitglied) 銅 heranziehen, so stellen wir fest, dass der linke Teil dieses Schriftzeichens 金 ausmacht, auch wenn es etwas deformiert erscheinen mag. 金 (Metall) steht hier in der Funktion eines Radikals ("Familienname"). Es dient eben dazu, das "individuelle" Kanji 銅 der Sachgruppe 金 zuzuordnen. In ähnlicher Weise werden die anderen "Mitglieder" wie 鉄, 銀 und 鉛 dem Radikal 金 zugeordnet. Sobald wir das Radikal 金 kennen, sind wir theoretisch imstande, ein beliebiges, d.h. uns nicht bekanntes Kanji mit diesem Radikal dieser Sachgruppe zuzuordnen. Tatsächlich haben folgende Kanji immer etwas mit Metall zu tun:
錫 (Zinn), 鉱 (Erz), 銭 (Münze), 針 (Nadel), 釘 (Nagel), 鋼 (Stahl), 鍵(Schlüssel), 鎧 (Rüstung), etc.
Es existieren heute ca. 200 (historisch betrachtet 214) Radikale, die als Oberbegriff einer Sachgruppe dienen und die Suche bzw. das Erlernen der Kanji erleichtern. Hierzu zählen nicht nur konkrete Dinge wie "Erde" 土, "Feuer" 火, "Wasser" 水, "Holz" 木 und dergleichen, sondern auch solche, die entweder selbst ein Abstraktum wie "Kraft" 力, "Herz" 心, "Standpunkt" 立 bedeuten, oder zwar selbst konkret, jedoch zur Wiedergabe von abstrakten Vorgängen und Seins formen dienen. Das Radikal "Mensch" macht z.B. den Bestandteil von solchen Kanji aus, die eher zwischenmenschliche Aktionen wie "dienen", "überreichen", "assistieren", "bitten" etc. wiedergeben und demnach keine fassbaren Dinge symbolisieren. Nachdem wir den Bedeutungsteil des Kanji 銅 (Kupfer) und dessen Hintergrund kennen gelernt haben, wenden wir uns nun seinem Ausspracheteil

Lesung
Die rechte Hälfte des Kanji 銅, nämlich 同, ist als reines Laut-Info zu betrachten und wird "DOO" ausgesprochen. Auch wenn das 同 an sich auch als ein selbständiges Kanji existiert, wird es hier lediglich dazu benutzt, um diesem 銅 einen Laut (sog. Lesung) zu vermitteln. Mit anderen Worten wird das 同 als Lautsprecher missbraucht. So existieren neben 銅 noch weitere Kanji, die alle wegen diesem 同 die Lesung "DOO" haben: 洞, 桐, 恫

Allgemein betrachtet, wurde also bei der Bildung eines jeden Phonogramms a. ein Radikal ausgesucht und b. ein weiteres Kanji hinzugefügt, das von seiner Bedeutung abgekoppelt und als reiner Lautträger eingesetzt wurde.
Geht man von dieser Dualität eines Kanji aus, die sozusagen die Standardform (80%!) darstellt, so wird statistisch gesehen, ein Großteil der Phonogramme (über 50%!) so wie wir bereits bei 銅 gesehen haben, nach dem Prinzip linke Hälfte Radikal und rechte Hälfte Lesung aufgebaut. Die Idealform eines Kanji sieht also so aus:

 Phonogramm  =  Radikal  +  Lesung 

Abweichung (Radikal)
Im Hinblick auf das Radikal lassen sich leider Abweichungen vom oben aufgestellten Idealschema feststellen.
Neben der idealen Gestaltung eines Kanji, wobei das Radikal die rechte Hälfte einnimmt, sind 10 Variationen in
der Praxis bekannt. Im Folgenden wird diese Tatsache schematisch dargestellt. Die als Radikalschema bezeichneten Quadrate stehen für alle Kanji, deren Radikale im schwarz markierten Bereich zu finden sind. Die Kenntnis dieser 11 möglichen Grundstrukturen erleichtert es Ihnen, später ein Ihnen unbekanntes Kanji in einem Kanji-Lexikon zu finden und sollte daher schon jetzt gezeigt werden:

Radikalschema   Radikalbeispiel   Kanjibeispiel   Jap. Bezeichnung
      hen
      tsukuri
      kanmuri od. kashira
      ashi
      tare
      nyō
      kamae
      kamae
      kamae
      kamae
      kamae

Abweichung (Lesung)
Da das Kanji wohlgemerkt einer lebenden Sprache entsprungen ist und nicht ein künstliches Gebilde darstellt, lassen sich zwar viele Kanji durch das hier dargestellte System logisch analysieren. Diese Darstellung über die Theorie des Phonogramms setzt jedoch ideale Bedingungen voraus, die in der Praxis leider nicht immer gegeben sind. So kommen regelmäßig Abweichungen in der Lesung, aber auch in der Platzierung des Radikals und somit in der Gesamtgestaltung des Kanji vor.

Die Abweichung in der Lesung kann wie z.B. beim Kanji 植, das aus dem Radikal 木 und dem Lautteil 直 "choku" besteht, aber warum auch immer "shoku" gelesen wird, geringer Natur sein. Sie kann aber auch so gravierend ausfallen, dass die obige Theorie überhaupt nicht mehr angewendet werden kann.

Das Kanji 鉢 besteht aus dem Radikal 金 und dem Lautteil 本 "hon" kann aber nur "hachi" oder höchstens "hatsu" gelesen werden. Niemand weiß wohl, wie sich aus dem "hon" ein "hachi" entwickeln kann.

Ein weiteres Problem in puncto Lesung muss hier erwähnt werden. Wie bereits im Abschnitt Allgemeines angedeutet, werden historisch bedingt verschiedene Laute (Lesungen) einem Kanji zugeordnet, und zwar zumeist eine kun-Lesung und oft mehrere on-Lesungen pro Kanji. So besitzt beispielsweise das Kanji 中, das zur Gruppe der Symbolzeichen gehört und "Mitte" bedeutet, die kun-Lesung "naka" und on-Lesung "chū". Das Kanji 国 mit der Bedeutung "Land" wird entweder "kuni" (kun-Lesung) oder "koku" oder "goku" (on-Lesungen) ausgesprochen.

einige weitere Beispiele:

Kanji   on-Lesung(en)   kun-Lesung(en)   Bedeutung
    akagane   Kupfer
    kuchi   Mund
  moku   me   Auge
  san/zan   yama   Berg
  rin   hayashi   Wäldchen, "Hain"
    ue/kami   oben
  ge/ka   shita/shimo   unten


Komposita

Sobald Begriffe gebildet werden, die aus zwei oder mehr Kanji zusammengesetzt sind (sogenannte Kanjikomposita), sind rein theoretisch betrachtet mehrere Lesungen möglich. So wird der Begriff für China bzw. "Reich der Mitte" in Kanji 中国, eben aus den oben bereits erwähnten beiden Kanji kombiniert, geschrieben. Theoretisch sind bei diesem Kompositum folgende Lesungen denkbar:
1 . nakakuni, 2. nakakoku, 3. nakagoku, 4. chūkoku sowie 5. chūgoku
In der Realität wird im Japanischen 中国 einzig und allein "chūgoku" (= 5. Lesart) ausgesprochen. Aus diesem einzigen Beispiel kann man bereits folgende, für die Zukunft sehr nützlichen Faustregeln, ableiten, dass man bei der Lesung von Komposita

a. eine Vermischung von on und kun-Lesung vermeidet und
b. vorzugsweise die on-Version benutzt.

Es gibt im Übrigen keine Erklärung, warum man 中国 nicht "chūkoku" (d.h. eine weitere Lesart, die die Regeln a und b erfüllt) ausspricht. Bei Kanji, die mehrere on-Lesungen haben, und das sind die meisten, muss man die jeweilige Lesung der Komposita leider einzeln lernen. (So wird etwa der Begriff Paradies 天国 ("Himmelland"), das aus dem Kanji 天 "ten", das "Himmel" bedeutet und dem erwähnten 国 "Land" besteht, nicht etwa "tenkoku", sondern warum auch immer "tengoku" ausgesprochen.

Im Gegensatz zu Komposita, werden einzelne Kanji, d.h. Begriffe, die aus einem einzigen Kanji bestehen und z.B. in einem Satz einzeln gebraucht werden, in aller Regel nach der kun-Lesung gelesen. Mit anderen Worten wird das Kanji 国 in einem Satz wie "Dieses Land ist reich an Bodenschätzen." (この国は資源が豊富である。) nicht etwa "koku" oder "goku", sondern "kuni" ausgesprochen.

Schlussbemerkung zum Kanji
Die vorliegende Einführung machte deutlich, dass das heutige Kanji keineswegs eine Bilderschrift darstellt. Allerdings ist es von großem Nutzen, bei der Erlernung der Schriftzeichen den Symbolcharakter dieser faszinierenden Schrift zu nutzen und entweder auf die tatsächliche Entstehungsgeschichte der jeweiligen Kanji (Kanji-Etymologie) zurückzugreifen (das wäre der akademische Weg), oder aber persönliche Eselsbrücken herzustellen, die möglichst ausgefallen und somit einprägsam sein sollte (das wäre der amüsantere Weg!). Für das Schriftzeichen 食. das die Bedeutung
"essen" besitzt, hatte z.B. einer Ihrer Leidensgenossen die folgende persönliche Interpretation entwickelt:
"Seitenansicht eines Männchen mit Strohhut, das auf dem Boden hockt und Speisen zu sich nimmt."

TABE

Und was erkennen Sie in diesem Schriftzeichen?